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Die vegetative Dysbalance - der Preis des modernen Lebens?


 

Darf ich vorstellen: das vegetative Nervensystem (VNS)

 

Eine kurze und verständliche Erklärung des vegetativen Nervensystems ist gar nicht so einfach. Einen Versuch ist es aber auf jeden Fall wert, da die vegetative Dysbalance ausserhalb von Therapeutenkreisen ein auch heute noch wenig bekanntes Phänomen ist, dem ich in der Praxis sehr häufig begegne.

 

Grundsätzlich besteht unser Nervensystem aus zwei Anteilen: dem zentralen Nervensystem (ZNS) und dem vegetativen Nervensystem (VNS). Ganz grob kann man dem ZNS willkürliche Funktionen wie die Motorik (bewegen, sprechen, sehen) und Sensorik (schmecken, riechen, fühlen) und deren äusserst komplexe Verarbeitung zuteilen. Die Zentrale ist das Gehirn, wo Reize aufgenommen, verarbeitet und wieder ausgesendet werden. So können wir zum Beispiel einen Menschen sehen und hören, der uns grüsst, den Reiz verarbeiten und erkennen als „Begrüssung“ und dann mit einem freundlichen „Hallo!“ zurückgrüssen. Oder auch nicht – denn wir können uns bewusst entscheiden, wie wir reagieren.

 

Dem gegenüber gestellt beschreibt man das vegetative Nervensystem als unwillkürliche Schaltstelle, wo Herzschlag, Darmaktivität, Weit- und Engstellung der Gefässe, Durchblutung der Muskulatur und Schweissbildung etc. gesteuert werden. Das Beispiel zu diesem Anteil ist zum Beispiel unsere Körperreaktion, wenn wir kurz vor einem Bewerbungsgespräch oder einer Prüfung stehen: der Puls steigt, die Hände sind leicht feucht und die Magengrube fühlt sich irgendwie flau an. Diese Reaktionen kann man kaum willentlich steuern.

Das Zentrum des VNS befindet sich im Bereich der Brustwirbelsäule. Von hier aus werden Organe, Muskeln und Gefässe und Drüsen versorgt. Das VNS selbst besteht wiederum aus zwei Teilen: dem in Stresssituationen aktiven Sympathikus und dem Entspannungssituationen zugeschriebenen Parasympathikus. Das wohl bekannte „Säbelzahntiger-Beispiel“ zeigt, wie alt dieses Nervensystem in der Chronik der menschlichen Entwicklung ist (es war längst vorhanden, als der Mensch lernte zu gehen oder noch später zu sprechen) und wie wichtig es für das Überleben des Steinzeitmenschen war.

 

Also, stell dir mal den Ur-Steinzeitmenschen vor. So richtig mit langen zottligen Haaren und Bart und mit einem Umhang aus Tierfellen und einer Keule in der Hand. Denn er hat Hunger und ist auf der Jagd. Durch die Wälder streifend begegnet ihm irgendwann ein Säbelzahntiger, der ebenfalls auf der Suche nach etwas Fressbarem ist. Beinahe gleichzeitig entdecken die zwei die Anwesenheit des Anderen. Der Steinzeitmensch erstarrt. Sein Puls schiesst in die Höhe, das Herz pumpt sofort mehr Blut und somit Sauerstoff in die Muskulatur, Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin und später Cortisol werden ausgeschüttet. Sein Blick schärft sich, der Geist ist hellwach, die Hände greifen die Keule fester und ein leichter Schweissfilm bildet sich auf der Handinnenfläche und an den Fusssohlen. Sein ganzer Körper bereitet sich auf genau zwei Szenarien vor: Kampf oder Flucht. Er befindet sich in einer maximalen Stressituation, es geht ums nackte Überleben. Dies ist der Zustand, in dem der Sympathikus maximal aktiv ist.

Zwei Stunden später: der Steinzeitmensch liegt in seiner Höhle. Er hat überlebt, weil er entweder vor dem Säbelzahntiger flüchten konnte, oder weil er den Kampf aufgenommen hat und durch seinen Sieg seine nächsten Mahlzeiten sichern konnte. Er ist also entweder völlig erschöpft oder er liegt zufrieden und satt neben seinem Höhlenfeuer in seinem Schnitzelkoma. Der Puls hat sich wieder normalisiert, sein Körper wird durchflutet von Glückshormonen und die meiste Energie wird für die Durchblutung und Aufrechterhaltung der Verdauung und für die Regeneration seiner Körperzellen aufgewendet. Die Atmung ist entspannt, die Augen ruhen sanft auf dem Flammen des Lagerfeuers und zufrieden mit seiner Leistung oder zumindest froh am Leben zu sein schläft der Steinzeitmensch langsam ein. Er befindet sich im Entspannungs- und Regenerationszustand, dem Parasympathikus.

 

 

Die vegetative Dysbalance

Das VNS mit dem Sympathikus und dem Parasympathikus sind auch heute noch genau so aktiv wie damals und für unser Überleben absolut essenziell. Es ist wichtig, dass wir Gefahrensituationen erkennen und entsprechend reagieren können und genauso wichtig ist es, dass unser Körper die Fähigkeit hat, sich zu entspannen und sich mit einer guten Verdauung und Regenerationsfähigkeit gesund zu erhalten. Dies funktioniert aber nur, wenn Sympathikus und Parasympathikus in einem Gleichgewicht, also in Balance, sind. Befinden wir uns wie heutzutage leider allzu häufig anteilsmässig häufiger im Stressmodus und haben wir zu wenig Zeit oder Fokus auf Entspannung und Regeneration, kann dies langfristig zu gesundheitlichen Problemen führen.

Befindet sich unser Körper vegetativ gesehen über längere Zeit im Stresszustand, kann sich das in einer gestörten Verdauung, mit Schlafstörungen und anhaltenden Erschöpfungszuständen zeigen. Zittrige Hände, Angstzustände, Kopfschmerzen und das Gefühl nicht durchatmen zu können sind ebenfalls mögliche Begleiterscheinungen. Auch Bluthochdruck und Herzrhythmusstörungen, Diabetes, Übergewicht gehören dazu sowie verzögerte und Heilungsprozesse und Wundheilungsstörungen nach Unfällen und Operationen und eine erhöhte autoimmune Aktivität (z.B. Allergien).

 

 

Wie kommt es zu einer vegetativen Dysbalance?

Wie schon beschrieben ist die Hauptursache die Dominanz von Stresssituationen mit gleichzeitig vermindertem Vorhandensein von Entspannung und Ruhe. Kurzfristig ist dies selten ein Problem. Der menschliche Körper kann mittelfristig viel „Raubbau“ wieder ausgleichen, wenn er danach eine ausreichende Phase der Ruhe bekommt.

Langfristig merken wir oft erst an den Symptomen, dass wir schon viel zu lange über unsere Grenzen hinausgegangen sind. Im Stresszustand bekommt das Verdauungssystem zu wenig Durchblutung und Energie, um die Nahrung optimal zu verdauen und ein allzu wacher Geist hat alles andere im Sinn als ruhig und seelig zu schlafen, weil seine Aufgabe in dem Moment das Probleme lösen ist – da ist schlafen und entspannen nicht seine Priorität.

 

 

Was also ist die Lösung?

In akuten Stressphasen ist es wichtig, dass der Körper die ganzen Stresshormone wieder abbauen kann. Dies funktioniert am besten mit Bewegung (Flucht und Kampf, wir erinnern uns). Sind wir dauernd in Alarmbereitschaft und geben dem Körper dann nicht die Möglichkeit die angestaute Situation (Stresshormone und einen erhöhten Blutzuckerspiegel, um Energie für Kampf und Flucht verfügbar zu haben) zu entschärfen, bilden sich langfristig daraus die oben genannten Auswirkungen. Im Akutfall wie zum Beispiel bei einem Streit oder nach einer brenzligen Situation empfehle ich hier tatsächlich möglichst rasch eine kurze intensive Bewegungseinheit wie zum Beispiel einem kurzen Sprint oder zumindest einem ordentlichen Schüttler durch den ganzen Körper, um die ganze Spannung wieder abzubauen. Dies kennen wir auch aus der Tierwelt, wo wir beobachten können, dass zum Beispiel Gazellen nach erfolgreicher Flucht erst einmal eine ganze Weile am Boden liegend zittern und danach relativ normal wieder aufstehen und weitergehen. Manchmal reicht es auch aus ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, vielleicht auch mit einem begleitenden Seufzer, um dem Körper die Erleichterung zu ermöglichen, dass er die Situation überstanden hat. Es gilt: je intensiver die Stresssituation beziehungsweise die Körperreaktion desto intensiver die ausgleichende Aktivität.

Chronische Stresssituationen sind schon etwas komplexer zu handhaben, weil es hier nicht mehr ausreicht, sich mehr zu bewegen oder tief durchzuatmen. In meiner täglichen Arbeit erkenne ich dabei oft die grosse Bereitschaft des Betroffenen, mehr Entspannung und Ruhe ins Leben zu bringen. Das ist ein sehr guter Ansatz! Kleine Veränderungen wie die Reduktion von Medienkonsum, eine morgendliche Meditation oder der regelmässige Abendspaziergang bringen bereits spürbare Erleichterungen. Wird hier jedoch nur die Entspannungsseite angeschaut, bleibt der langfristige Erfolg leider oft aus. Ein „zu viel“ auf der Stressseite mit einem „noch mehr“ Zeitaufwand für die Entspannung mündet nicht selten in einer Art Entspannungsstress, der dann natürlich nicht die gewünschte Wirkung hat.

Der Körper strebt eine Balance zwischen Stress und Entspannung an. Ein Überschuss auf der Stressseite sollte nicht ausschliesslich über die Entspannungsseite kompensiert werden. Vielmehr drängen sich früher oder später grundsätzliche Lebensfragen auf:

 

  • Was ist mir in meinem Leben wirklich wichtig?
  • Kann ich meine Prioritäten anders gewichten?
  • Nehme ich meine Bedürfnisse wahr und anerkenne ich deren Wichtigkeiten in meinem Leben?
  • Gibt es in meinem Leben Werte, die ich hinterfragen und vielleicht sogar neu sortieren kann?

 

Oft braucht es erst einschneidende Erlebnisse wie eine Krankheit, die Trennung des Partners oder andere familiäre oder berufliche Einschnitte, bis solche Fragen sich im eigenen Leben nicht mehr aufschieben lassen. Ich staune immer wieder, wie lange der Mensch sich enormen Belastungen aussetzen kann, bevor er buchstäblich ausbrennt und einfach nicht mehr kann. Burnout, Erschöpfungsdepression, völliger Stillstand im Leben. Sich im Leben den nötigen Platz zu geben und verantwortungsvoll mit der eigenen Energie umzugehen ist nicht einfach, aber zuerst notwendig und später die Basis eines erfüllten und zufriedenstellenden Lebens. Die Balance zwischen Sympathikus und Parasympathikus, Anstrengung und Entspannung, Anpacken und Loslassen zu finden ist ein wunderschöner Prozess, der ein Leben lang dauert und unser Körper wird uns immer wieder gerne daran erinnern, wenn wieder Zeit zum ausatmen ist.